„Mit jedem Schritt in Richtung Abgrund hatte Pau Ribera das Gefühl, dass ihm die Kontrolle über seinen Körper und seinen Geist entglitt. Seine Knie fühlten sich weich an, als hätten sich Knochen, Knorpel und Sehnen in eine amorphe Gummimasse verwandelt, ihm war schwindelig, das Herz raste, im Ohr rauschte es, Schweiß bildete sich auf der Stirn. Er hatte das Bedürfnis, sich hinzusetzen, um wie ein Kleinkind auf dem Po weiter zu robben. Noch lieber wäre es ihm jedoch gewesen, auf dem Absatz kehrt zu machen, aber es ging nicht, denn gleichzeitig entwickelte die Tiefe eine eigenartige Sogwirkung. Schier unwiderstehlich zog sie ihn nach vorne wie ein Traktorstrahl in einem Science-Fiction-Film, als hätte sich eine dunkle Macht sich seiner bemächtigt, um ihn ins Verderben zu stürzen.

Zentimeter um Zentimeter näherte sich Ribera der bedrohlichen Linie, an der die Steilküste nahtlos in den Horizont überging. Dazwischen erstreckte sich das an diesem Tag milchig graue Meer, auf dem ein einsames Segelboot kreuzte. Und darüber wölbte sich ein wolkenverhangener Himmel, an dem zwei Möwen ihre Bahnen zogen. Plötzlich erreichte ihn wie durch eine Nebelwand eine Stimme und riss ihn aus seinen inneren Kämpfen heraus.“ – Leseauszug aus „Kap des Todes“ von Klaus Späne
Wenn man aus Richtung S’Arenal über die Landstraße Ma-6014 in Richtung des Cap Blanc fährt fällt eines sofort auf: die Gegend sieht aus, als wäre jemand mit einem riesigen Bügeleisen darübergefahren. Hinzu kommt dass die Vegetation sich unter der brennenden Sonne und dem beständig vom Meer her wehenden Wind an den felsigen Boden zu drücken scheint. Wirklich hohe Bäume gibt es nur in der Nähe menschlicher Siedlungen, selbst die sonst allgegenwärtige Kiefer will hier nur selten wirklich in die Höhe wachsen, bildet dafür aber oft bizarre Zwergformen. Der Grund für das flache Terrain ist ein Kalkpleateau aus dem Miozän, genannt Marina de Llucmajor, das in den vergangenen 16 Millionen Jahren keinerlei geologischer Faltung unterworfen war. Umso erstaunlicher ist die plötzliche Wandlung der Landschaft, wenn man sich der Küstenlinie nähert. Völlig unvermittelt steht man über einem Abgund und hat einen grandiosen Blick auf das Mittelmeer. Und um ein weiteres Mal das Bild übergroßer Haushaltsgeräte zu bemühen, hier sieht Mallorca aus wäre das Land von einem gigantischen Messer einfach abgeschnitten worden.
Die Höhe und die Erreichbarkeit über die Straße haben dem Cap Blanc einen traurigen Beinamen verpasst: das Selbstmörder-Kap. Denn wer hier, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, einen Schritt in die falsche Richtung macht stürzt bis zu 90 Meter senkrecht in die Tiefe um unten auf zerklüfteten Felsen zu landen. Die Überlebenschance eines solchen Sturzes ist als sehr gering einzustufen.
So kam es, dass seit Anfang der 90er Jahre dort fast 40 Menschen ihrem Leben freiwillig ein Ende gesetzt haben. Die meisten von ihnen sind einfach von der Straße aus mit dem Auto über die Klippen gerast, was die Stadt Llucmajor dazu veranlasste an den besonders gefährdeten Stellen einen Zaun zu bauen. Genutzt hat es nicht viel, bis heute ist die Meldung eines Selbstmordes am Cap Blanc nichts Seltenes.

Für die Mallorquiner ist das Cap Blanc nicht umsonst ein Mal Lloc – ein böser Ort. Und damit nicht genug: Die Untiefen am Fuß der Klippen finden sich auf alten Seekarten unter dem Namen „Ses portes de l’infern“ die Tore zur Hölle. Hier verunglücken immer wieder Boote, die den trügerischen Klippen zu nahe gekommen und auf den Felsen gestrandet sind. Den Einheimischen ist das Kap also von jeher unheimlich und wenn ich ganz ehrlich bin, auch ich konnte mich der schaurigen Faszination kaum entziehen. Ich konnte, wie Pau Ribera in dem Ausschnitt aus meinem neuen Roman, den Sog spüren, der von der plötzlich auftauchenden Tiefe ausgeht. Ich hatte noch nie auf Mallorca an einem Ort so sehr das Gefühl, dass ich so schnell wie möglich dort wegwollte. Die faszinierende Landschaft konnte mich nicht davon ablenken, das über diesem Ort etwas Böses zu schweben scheint. Eines hat mir diese Erfahrung allerdings gebracht: Die Vorstellung, dass sich bei dem „Weißen Kap“ um einen unschlagbaren Schauplatz für einen Krimi handelt. Eine Idee die ich in meinem, am 18.03.2021 erscheinenden Roman „Kap des Todes“ in die Tat umgesetzt habe.